04.6.2021

Bundeskabinett beschließt Gesetzesänderung zur Zahlung von Tariflöhnen in der Pflege

Die Bundesregierung hat sich am 2. Juni 2021 auf Formulierungshilfen für Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen zum Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) und Fünftes Buch (SGB V) verständigt, die u.a. die Bindung des Versorgungsvertrages an eine Tarifanwendung und eine Regelung zur Begrenzung der Eigenanteile vorsehen. Die Änderungen sollen am 11. Juni 2021 im Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossen werden kann.

Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 erhalten ab 1. Januar 2022 einen prozentual gestaffelten Leistungszuschlag zum Eigenanteil an den pflegebedingten Aufwendungen in Höhe von

•   5 v.H. ihres zu zahlenden Eigenanteils, während der ersten 12 Monate 

•   25 v.H. ihres zu zahlenden Eigenanteils, ab dem 13. Monat

•   45 v.H. ihres zu zahlenden Eigenanteils, ab dem 25. Monat

•   70 v.H. ihres zu zahlenden Eigenanteils, ab dem 37. Monat

des Bezugs von Pflegeleistungen in einer stationären Pflege Einrichtung.

Ab dem 1. September 2022 dürfen die eine Abrechnung mit der Pflegeversicherung voraussetzenden Versorgungsverträge nur mit Pflegeeinrichtungen abgeschlossen werden, die ihren mit der Erbringung von Leistungen der Pflege und Betreuung Beschäftigten eine Entlohnung zahlen, die in Tarifverträgen oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen vereinbart ist. Nicht unmittelbar selbst tarifgebundene Pflegeeinrichtungen müssen diese ab diesem Zeitpunkt eine Entlohnung zahlen, die die in einem für die Pflegebranche geltenden Tarifvertrag bzw. kirchlicher Arbeitsrechtsregelung geregelte Bezahlung nicht unterschreitet. Möglich ist dabei auch die Anwendung eines Tarifvertrages, der von mindestens einer anderen Pflegeeinrichtung in der Region angewendet wird und dessen zeitlicher und persönlicher Geltungsbereich eröffnet ist (Haustarifvertrag). Versorgungsverträge, die vor dem 1. September 2022 abgeschlossen wurden, sind bis spätestens zum Ablauf des 31. August 2022 mit Wirkung ab 1. September 2022 anzupassen. Diese Neuregelung in § 72 SGB XI soll durch das Bundesgesundheitsministerium unter Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025 evaluiert werden.

Geändert werden soll die Regelung zur Wirtschaftlichkeit der Personalaufwendungen. Eingeführt wird, dass bei der Beurteilung der eine Abrechnung mit der Pflegeversicherung voraussetzende Wirtschaftlichkeit von Personalaufwendungen zwischen tarifgebundenen und tarifanwendenden Pflegeeinrichtungen unterschieden wird: • Bei tarifgebundenen oder an kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebundenen Pflegeeinrichtungen kann eine Bezahlung von Gehältern der Beschäftigten bis zur Höhe der aus dieser Bindung resultierenden Vorgaben nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden. • Bei nicht tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen kann eine Entlohnung der Beschäftigten in der Pflege und Betreuung nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden, soweit die Höhe ihrer Entlohnung das regional übliche Entgeltniveau nicht deutlich überschreitet. Eine deutliche Überschreitung des regional üblichen Entgeltniveaus soll dann vorliegen, wenn ihre Entlohnung die gewichtete durchschnittliche Entlohnung für solche Beschäftigte, die von tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen nach Tarifvertrag bzw. kirchlicher Arbeitsrechtsregelung in der Region gezahlt werden, um mehr als 10 Prozent überschreitet.

Eine höhere Entlohnung der Beschäftigten in der Pflege und Betreuung kann aber aufgrund eines sachlichen Grundes dennoch als wirtschaftlich angemessen gelten. Die Begründung nennt z.B. eine vorliegende Vorvereinbarung auf Grundlage höherer Gehälter, die übertarifliche Bezahlung von Leitungs- und Führungskräften oder das Erfordernis, aufgrund einer besonders herausfordernden Fachkräftesituation in der Region, wettbewerbsfähige Löhne zu zahlen. Der Träger der Pflegeinrichtung ist ab dem 1. September 2022 verpflichtet, die bei der Vereinbarung der Pflegesätze zugrunde gelegte Bezahlung der Gehälter jederzeit einzuhalten und auf Verlangen einer Vertragspartei nachzuweisen.

Ein schöner, wenn auch nicht voller Erfolg unserer jahrelangen Anstrengungen zur Anhebung der Attraktivität des Pflegeberufs. Statt mittels allgemeinverbindlichem Tarifvertrags werden die nicht an Tarifverträge oder kirchliche Arbeitsrechtlichen Arbeitsrechtsregelungen gebunden Pflegeunternehmen per Gesetz über die Refinanzierbarkeit von Personalkosten veranlasst, fair zwischen unabhängigen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern ausgehandelte Gehälter zu zahlen. Die Hoffnung auf einen Anstieg der Pflegegehälter ist berechtigt. Ob das auch für weitere Lohnkomponenten, wie Jahressonderzahlung und Altersversorgung oder auch für Urlaubsansprüche gelten wird, ist noch unklar. Ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag hätte der Sorge über mögliche Gefälligkeits(haus)tarifverträge mit sogenannten christlichen Gewerkschaften abgeholfen. Aber die gesetzliche Neuregelung ist allemal die zweitbeste Lösung. Das ist entgegen der Meinung vieler Journalisten und Lobbiesten auch nicht deshalb zu kritisieren, weil die Einigung zwischen dem Gesundheits-, dem Finanz- und dem Arbeitsminister wohl überwiegend dem Wahlkampf geschuldet gelang.

Ärgerlich hingegen ist, dass die erforderliche Refinanzierung der aus der Erhöhung der Pflegegehälter resultierenden Personalmehrkosten nun doch nicht von der Allgemeinheit, sondern im ganz Wesentlichen von den Pflegebedürftigen selbst geleistet werden muss. Das betrifft zwar nicht von Einrichtungen der Diakonie oder der Caritas ambulante oder stationäre Pflegeleistungen in Anspruch nehmenden Pflegebedürftigen, weil sie mit ihren heutigen Eigenanteilleistungen bereits jetzt die in diesen Einrichtungen seit jeher bezahlten, fairen Gehälter der Pflegekräfte finanzieren und deshalb keine Erhöhungen stattfinden werden. Aber die Mehrheit der Pflegebedürftigen in Niedersachsen und wohl auch ganz Deutschland erhalten ambulante oder stationäre Pflegeleistungen von privat-gewerblichen Pflegeunternehmen, die bis heute niedriger Preise und ihre Renditen über niedrige Gehälter und Arbeitsbedingungen finanziert haben.

Das nun geplante System der gestaffelten Entlastung der Pflegebedürftigen ist tatsächlich wohl nur Augenwischerei. Für ca. die Hälfte der Pflegebedürftigen wird nur der niedrigste Entlastungszuschuss von 5 %fällig, weil sie leider vor Ablauf des ersten Jahres sterben. Außerdem: Ob mit oder ohne 5-%-Zuschuss werden die meisten Pflegebedürftigen nach Jahresfrist Sozialhilfe benötigen, weil der Eigenanteil ihr Vermögen dann aufgezehrt hat und die monatliche Rente nicht reichen wird. Wie schön, dass dann die die Pflegeversicherung finanzierenden Beitragszahler mit den dann steigenden Zuschüssen die kommunalen Sozialhilfeträger entlasten werden. Eben das ist wohl auch das Ziel dieser Regelung. Anderenfalls hätte man den Forderungen der Sozial- und Wohlfahrtsverbände Rechnung getragen, den Eigenanteil in der Höhe zu deckeln und darüber hinaus vom Steuerzahler zu finanzieren.

Wie gesagt: Ein schöner, wenn auch nicht voller Erfolg!